Phantastische Realitäten
Eine Weitwinkel-Aufnahme gibt in der Regel viele Auskünfte. Je mehr man sich aber einem Objekt nähert, sei es mit dem Objektiv, sei es mit Hilfe eines Zooms, je weniger informativ wird das Foto. Diesem Verlust an Information steht ein Gewinn an neuen optischen Reizen gegenüber, ein neuer, ungewöhnlicher Blick mit oft neuen, ungewöhnlichen Effekten von Licht und Farbe. Es ist eine Art von Verliebtheit: Die große Nähe trübt den Blick für das Reale, öffnet jedoch das Tor ins Reich der Phantasie.
Das Wer, Was, Wann, Wie und Wo ist bei diesen Fotos völlig unwichtig. Solche Daten würden den Betrachter nur ablenken vom sinnlichen Erlebnis. Bewusst verzichte ich deshalb auch darauf, meinen Fotos einen Titel zu geben. Denn ein Titel wäre wie ein Anschlag auf die Freiheit der Phantasie, weil er die Gedanken in eine fremde Richtung lenkt, nämlich die der Phantasie des Fotografen und Titelgebers. Umso phantasiefeindlicher noch wäre die Information, was die Aufnahme tatsächlich zeigt.
Das Foto spricht für sich selbst. Und jeder Betrachter versteht seine Sprache auf eigene Weise. Er bedarf dabei keiner Hilfe des Fotografen, denn es gibt keine richtigen oder falschen Phantasien. Es geht nicht um die Auflösung eines Bilderrätsels. Es geht vielmehr um eine optische Stimulanz von Gedanken und Gefühlen.
Alle Objekte, alle Licht- und Farbeffekte sind real, obwohl sie zumeist bei „normaler“ Sichtweise nicht erkennbar waren und sind. Diese auf den ersten Blick oft nicht sichtbare, aber sehr wohl existierende Realität soll mit Hilfe der Kamera in eine Welt des Phantastischen einladen. Es sollen reale Phantasiebilder entstehen.
Obwohl ich weiß, was ich wann, wo und wie fotografiert habe, ist es mir nach menschlichem Ermessen nicht möglich, eines meiner Fotos aus dem Bereich der phantastischen Realitäten noch einmal zu wiederholen. Sie sind unwiederbringliche Momentaufnahmen, weil der Augenblick der Aufnahme, die dabei herrschenden Lichtverhältnisse und die Position der Kamera zum Objekt nicht exakt rekonstruierbar sind.
Die erste Begegnung mit dem Foto ist zunächst an eine Perspektive gebunden – denn irgendwie müssen rechts und links, oben und unten ja verteilt sein. Und dennoch sollten wir uns die Freiheit lassen, die Welt sozusagen auf den Kopf zu stellen oder von der Vertikalen in die Horizontale zu bringen. Es ist durchaus möglich, dass Betrachter meiner Fotos durch eine solche Veränderung des Blicks zu anderen Phantasien animiert werden. Da das Motiv von unserer visuellen Speicherplatte im Gehirn nicht wirklich abrufbar und identifizierbar ist, entsteht durch die Veränderung der Perspektive auch nicht das störende Gefühl, dass da etwas „nicht stimmen“ könnte. In jedem Fall aber bleibt das Foto der Wirklichkeit verbunden, denn was wir in ihm sehen, sind nicht reine, sondern reale Phantasiebilder.
Mein Bestreben, Ihnen eine größtmögliche Freiheit Ihrer Phantasie zu lassen, führt zu praktischen Problemen: Wo soll das Foto signiert werden? Wo soll es Vorrichtungen zur Hängung geben? Soll es einen Titel haben? Wer soll einen Titel geben? Diese Fragen möchte ich möglichst nicht alleine entscheiden, sondern im Gespräch mit dem interessierten Kunstfreund.